Nordafrika in der frühen Neuzeit: Zwischen Europäern und Osmanen

Nordafrika in der frühen Neuzeit: Zwischen Europäern und Osmanen
Nordafrika in der frühen Neuzeit: Zwischen Europäern und Osmanen
 
Der Maghreb bis zum 17. Jahrhundert
 
Mit dem 15. Jahrhundert kündigte sich für den »Äußersten (Westlichsten) Maghreb« bereits die Neuzeit an, die hier das Auftreten und Eingreifen der Portugiesen bedeutete. Zwar brachte bereits das 16. Jahrhundert den Zusammenbruch der portugiesischen Herrschaft, doch wurde diese von der spanischen abgelöst. Von Ceuta (Sabta) aus nach Osten vordringend, sollte Spanien für eine Zeit lang die stärkste Macht im westlichen und zentralen Mittelmeer darstellen.
 
Zunächst aber Marokko: 1415 besetzten die Portugiesen die Hafenstadt Ceuta an der Straße von Gibraltar, was für den gesamten Maghreb ein unerhörtes Ereignis von kaum zu überschätzender Wirkung war. Die Ankömmlinge wurden zunächst im Norden aktiv: Nach Ceuta besetzten sie 1458 Ksar es-Seghir, 1471 Arzila und Tanger. Danach weiteten sie ihre Aktivitäten nach Süden hin aus: 1481 bzw. 1486 mussten Safi und Azemmour die Oberhoheit des Königs von Portugal anerkennen, 1505 erbauten die Portugiesen nahe Funti am Kap Ghir die Festung Santa Cruz de Aguer, 1506 Mogador (heute Essaouira), 1514 unternahmen sie sogar einen Vorstoß nach Marrakesch, der allerdings scheiterte. Sie schufen auch drei christliche Diözesen: Ceuta, Tanger und Safi.
 
Den marokkanischen Widerstand, unter dem Herrscherhaus der Wattasiden (1465/76—1554) zunächst schwach und kaum organisiert, nahmen nun die seit 1511 eingreifenden Sadier in die Hand. Dies führte zum einen dazu, dass sie ab 1554 die Wattasiden ablösten, und zum anderen, dass die Portugiesen fast alle ihre Stützpunkte verloren: 1541 eroberte der Sadier Mohammed al-Mahdi Santa Cruz, im selben Jahr wurden Safi und Azemmour, 1550 Arzila und Ksar es-Seghir geräumt. Den Portugiesen verblieben nur Mazagan, Tanger und Ceuta. An eine vollständige Eroberung Marokkos hatte Portugal vermutlich nicht gedacht, wohl aber die Absicht und den Vorsatz gehabt, die eroberten Plätze zu halten. Beweggrund seines Eingreifens war, was die Eroberung der Häfen der Atlantikküste betraf, die Sicherung des Seewegs nach Indien, den man suchte und fand. Man vergesse doch nicht, dass die langsamen Segelschiffe auf die Möglichkeit, sichere Häfen anzulaufen und sich mit Proviant zu versorgen, angewiesen waren! Was die Eroberung Ceutas betraf, so ging es um Beute und auch darum, einen der bedeutendsten Handelsplätze der Zeit in die Hand zu bekommen!
 
Spanien trat 1497 auf den Plan. Admiral Alonso Pérez de Guzmán, Herzog von Medina Sidonia, bemächtigte sich der Stadt Melilla, die noch heute unter spanischer Hoheit steht. Die Insel Badis, spanisch Peñón de Velez (de la Gomera), wurde 1507 erobert, 1520 verloren und 1564 wiedergewonnen. Es folgten — im heutigen Algerien — 1505 Mers el-Kebir und 1509 Oran, 1510 Bejaïa (Bougie) und Algier oder vielmehr die Insel in der Bucht, außerdem das heute libysche Tripolis. 1535 nahmen sie Tunis ein, beließen aber die einheimischen Hafsidensultane unter spanischer Oberhoheit an der Regierung. Tripolis wurde 1530 den Maltesern übergeben, die es bis zur Eroberung durch den türkischen Piraten Dragut (Turgud Reis) 1551 hielten. Auch die spanische Expansion im Maghreb war nicht von Dauer, weil sie das Eingreifen der osmanischen Großmacht hervorrief. Eigenartig ist der Vorgang deswegen, weil er durch das Auftreten türkischer Piraten wie dem eben genannten Dragut und den »Gebrüdern Barbarossa« von der Insel Mytilene (Lesbos) eingeleitet wurde, während erst später reguläre türkische Truppen eingriffen.
 
Marokko von den Wattasiden zu den Sadiern
 
In Marokko setzten sich die Wattasiden, nahe Verwandte und Minister der seit 1269 regierenden Meriniden, schließlich 1465/76 an deren Stelle. Obwohl bemüht, den vordringenden Portugiesen Widerstand zu leisten, haben sie diese Aufgabe nur halbherzig wahrgenommen und waren zu sehr in innere Kämpfe verwickelt. Marokko steckte in einer tiefen Krise, wie sich schon unter den Meriniden gezeigt hatte. Das Heraufkommen lokaler und regionaler Führer, vor allem von geistlichen Häuptern — den Marabuts — der immer zahlreicher und einflussreicher werdenden religiösen Bruderschaften, schränkten die tatsächliche Herrschaftsgewalt der Sultane von Fès ganz erheblich ein, und als gar der Wattaside Mohammed asch-Scheich 1471 mit den Portugiesen einen zwanzigjährigen Waffenstillstand schließen musste, war es um das Ansehen der Dynastie geschehen.
 
Marokko unter den Wattasiden hatte vor allem deswegen den Portugiesen und Spaniern keinen entscheidenden Widerstand leisten können, weil es technisch, lies: hinsichtlich der Feuerwaffen, Gewehre und Artillerie, völlig im Hintertreffen war. Die notwendige Modernisierung zu leisten blieb neuen Herren vorbehalten, den scherifischen Dynastien, also solchen, die vom Propheten abstammten oder dies behaupteten. Zunächst betraten die Sadier, arabisch Banu Sad, die Szene. Einem aus ihrer Sippe, Mohammed al-Kaim, gelang es gegen 1510, die zerstrittenen Abteilungen des mit ihm verbündeten Stammes der Makil, aus Südarabien stammender arabischer Beduinen, zu einigen. 1511 wurde er zum Anführer des »heiligen Krieges« im Sous gegen die Portugiesen gewählt. Die Sadier sind etwa Anfang des 14. Jahrhunderts aus dem Hidjas gekommen und haben sich am Oberlauf des Draa in Tagemdart (nahe dem heutigen Zagora) niedergelassen, in einem der am dichtesten besiedelten Teile der Region. Das von den Portugiesen 1505 gegründete Agadir wurde Zentrum ihrer Expansion; Berberstämme, die sich gegen die Portugiesen von Safi sperrten, riefen Mohammed al-Kaim auf, einzugreifen. Mit seinen Söhnen ließ er sich in Afougal bei Chichaoua (halben Wegs zwischen Marrakesch und Essaouira) nieder, wo er 1517 starb und beigesetzt wurde. Seinen Söhnen gelang es 1525, sich Marrakeschs zu bemächtigen. Der ältere von ihnen, Ahmed al-Aradj, rief sich zum König des Südens aus, erkannte aber die Oberhoheit des Wattasiden ausdrücklich an.
 
Bereits al-Kaim hatte eine rudimentäre Verwaltung organisiert, die Abgaben eintrieb und den Anbau von Zuckerrohr förderte, um die Produktion von raffiniertem Zucker für den Export nach Europa zu ermöglichen. Mit den Erlösen kauften seine Söhne von spanischen und französischen Waffenhändlern in Südmarokko Feuerwaffen und warben europäische Waffenschmiede an. Al-Aradj und sein Bruder und Nachfolger Mohammed asch-Scheich waren nunmehr im Stande, 1536 den Wattasiden eine Niederlage zu bereiten und 1541 Agadir zu erobern, das zum Exporthafen für den Handel nach Europa ausgebaut wurde. Portugal räumte daraufhin von sich aus Safi und Azemmour. Die mittlerweile nach türkischem Vorbild organiserte Armee schlug 1545 die Wattasiden und eroberte 1549 Fès. Die inzwischen in Algerien herrschenden Osmanen stießen bald mit ihren Nachbarn zusammen, und nach Kämpfen zwischen den muslimischen Feinden kam es 1552 zu einem Waffenstillstand, der die Grenze zwischen Marokko und Algerien am Fluss Moulouya festlegte.
 
Spanier und Osmanen
 
Zwischen 1557 und 1581 trafen im Maghreb die beiden Großmächte der Epoche, die Spanier und die Osmanen, aufeinander. Dazu die Vorgeschichte: Die schon erwähnten Brüder Barbarossa kamen gegen 1512/13 in den westlichen Mittelmeerraum und durften mit Erlaubnis der Hafsidensultane den Hafen von Tunis als Stützpunkt benutzen. 1516 eroberten sie Algier, und 1517 gelang es ihnen, Tlemcen zu besetzen, jedoch nicht, den Spaniern die Küstenhäfen zu entreißen. Der älteste der Brüder, (Baba) Arudj, im Westen auch Horuk genannt, starb 1518. Von 1519 an wurde der osmanische Sultan in Algerien, das Cheireddin Barbarossa inzwischen großenteils erobert hatte, als Souverän anerkannt. 1534 folgte die Eroberung von Tunis, das Kaiser Karl V. im Jahr darauf für Spanien zurückeroberte. Cheireddin starb 1534 im Range eines osmanischen Großadmirals, Paschas und Gouverneurs mit dem Titel Beglerbeg (beylerbeyi). Indem er das Eingreifen der Türken im Maghreb erreichte, setzte er dem Vordringen der Spanier ein Ende; die spanische Oberhoheit über Tunis (1535—74) vermochte daran nichts zu ändern. Cheireddin hatte bereits die Grundlagen der türkischen Regentschaft in Algier gelegt. Mithilfe türkischer Truppen und Korsaren wie des berühmten Dragut von Tripolis, der ebenfalls in den Dienst der Hohen Pforte — der türkischen Regierung — trat, gelang es zwischen 1520 und 1575, den gesamten Maghreb bis an die Grenzen Marokkos dem Sultan zu unterstellen. Nachdem seit 1533 der Beglerbeg von Algier aus zunächst über alle osmanischen Besitzungen im Westen geboten hatte, teilte Sultan Murad III. 1587 die enorme Ländermasse in die drei Regentschaften Tripolis, Tunis und Algier, die durch periodisch zu ernennende Paschas verwaltet werden sollten.
 
Zuvor prallten, wie schon gesagt, die beiden führenden Mächte der christlichen und der islamischen Welt, Habsburger (Spanier) und Osmanen, mit voller Wucht und unter unerhörten Kraftanstrengungen aufeinander. Die Spanier sahen sich allmählich ans westliche Ende des Mittelmeeres zurückgedrängt. Bereits 1558 gelang es den Korsaren, die Stadt Mostaganem im Westen Algeriens zu erobern, und 1569 wurde von Algier aus Tunis besetzt. Spanien holte im Verein mit Venedig und dem Vatikan zum Gegenschlag aus: Die gemeinsame Flotte unter dem Befehl von Don Juan d'Austria vernichtete in einer gewaltigen Seeschlacht bei Lepanto (Naupaktos), am Eingang in den Golf von Korinth, 1571 die osmanische Flotte, allerdings ohne deren nordafrikanischen Teil, der Kern einer neuen Flotte wurde. Daraufhin konnten zwar die Spanier 1573 die Türken aus Tunis vertreiben, besaßen aber im Jahre darauf nicht mehr die nötigen Schiffe, um eine osmanische Flotte mit Kurs auf Tunis zu stoppen. Die Stadt fiel endgültig in türkische Hand, und die Hafsiden wurden beseitigt.
 
Marokko unter den Sadiern
 
Dieses enorme Ringen war nur möglich geworden, weil Marokko aus der Reihe der Türkengegner ausgeschieden war. Das aber ergab sich durch den Verlauf seiner Geschichte unter den Sadiern, die deshalb hier nachgezeichnet werden muss. Zeitgenössische Berichte zeigen übrigens, dass die Sadier in Nordmarokko und besonders in Fès als ungeschlachte und ungehobelte Fremdlinge und Emporkömmlinge betrachtet wurden, denen erst einmal das Auftreten und Benehmen von Fürsten beigebracht werden musste, von der Führung der Staatsgeschäfte ganz zu schweigen. Nach der Ermordung des ersten Sadiersultans Mohammed asch-Scheich 1557 durch osmanische Agenten bestieg Abdallah al-Ghalib, bis dahin Gouverneur von Fès, den Thron, residierte aber in Marrakesch, da ihm die Parteigänger der Türken in Fès zu zahlreich waren. Bei seinem Regierungsantritt flüchteten drei seiner Brüder zu den Türken; einen von ihnen ließ er in Tlemcen ermorden, die beiden anderen, Abd el-Malik und Abu l-Abbas Ahmed, entkamen nach Istanbul. Al-Ghalib hielt an der Allianz mit den christlichen »Erbfeinden«, den Spaniern, fest. Selbst die Revolte der Morisken, der unter christlicher Herrschaft in Granada zurückgebliebenen Mauren, bewog ihn nicht zum Eingreifen, doch wurden Flüchtlinge aufgenommen und integriert.
 
Al-Ghalib betätigte sich als großer Bauherr: In Marrakesch restaurierte er die Almohaden- Moschee der Kasba und baute die Ben-Jusuf-Medrese aus, in Agadir errichtete er die heutige Zitadelle. Sein Tod 1574 führte das Land in eine kurze, aber heftige Krise, die mit der berühmten »Schlacht der drei Könige« endete.
 
Sein ihm nachfolgender Sohn Mohammed al-Mutawakkil, Gouverneur von Fès, bestieg ohne Schwierigkeiten den Thron und richtete sich wie Vater und Großvater in Marrakesch ein; eine türkische Intervention zugunsten seines geflüchteten Onkels Abd el-Malik, Niederlagen und Verrat veranlassten ihn, Fès aufzugeben und in den Süden zu fliehen. Sein Onkel zog 1576 in Fès ein. Er schickte alsbald seine türkischen Helfershelfer heim, baute eine eigene, schlagkräftige Armee auf und vertrieb seinen Neffen, der nach Spanien, dann nach Portugal flüchtete. Der junge portugiesische König Sebastian, Neffe Philipps II. von Spanien, war bestrebt, die frühere Vormachtstellung seines Landes in Marokko wieder herzustellen, und zudem von Kreuzzugsgedanken erfüllt. Zu seinen Beweggründen, Mohammed al-Mutawakkil zu unterstützen, gehörte aber auch die Absicht, den wachsenden Einfluss der Engländer in Marokko einzudämmen, und die Sorge, die Osmanen könnten dauerhaft in diesem Lande Fuß fassen und sich im Einvernehmen mit Venedig in den Atlantikhandel einschalten. Trotz Abratens aller Kenner der Verhältnisse erschien er 1578 in Nordmarokko und wählte noch dazu ein äußerst ungünstiges Schlachtfeld bei Ksar el-Kebir. So kam es zu einer vernichtenden Niederlage der portugiesischen Armee, in deren Verlauf alle drei beteiligten Herrscher ums Leben kamen (Abd el-Malik durch Krankheit). Abu l-Abbas Ahmed, später al-Mansur (der Siegreiche) genannt, folgte seinem Bruder Abd el-Malik auf dem Thron; Portugal fiel — da Sebastian ohne legitimen Erben war — an seinen Onkel Philipp II. und damit an Spanien.
 
Ahmed al-Mansur regierte Marokko von 1578 bis 1603; seine Herrschaft gilt gemeinhin als Höhepunkt der Sadierzeit. Mithilfe eines Söldnerheeres von angeblich 40000 Mann — davon drei Viertel Türken —, das mit modernen Waffen ausgerüstet war, hielt er das Land fest in der Hand und bescherte ihm friedliche Jahre. Mächtige Festungsbauten in Taza und Fès sicherten diese Städte und flößten ihren Bewohnern heilsamen Respekt ein. Im »Machsen«, der Regierung des Herrschers, spielten ausländische Ratgeber, besonders Türken und spanische Muslime, eine bedeutende Rolle, zumal auf militärischen Kommandoposten.
 
Besonders rege betätigte sich der Herrscher als Bauherr. Zunächst wurde die Kasba von Marrakesch ausgebaut, dann von 1578 bis 1594 der Sultanspalast, der viel gerühmte Kasr al-Badi, errichtet, von dem nur die Fundamente erhalten sind. Seine Formensprache bleibt im Rahmen der spanisch-maurischen Kulturtradition. Al-Mansur restaurierte auch die Königsgärten Agdal und Menara; er versah den Hof der Karawijin-Moschee zu Fès mit den beiden Pavillons, die ganz die des Löwenhofes der Alhambra nachahmten, wie überhaupt die Baukunst der Sadier stärker von der des Nasridenreiches von Granada beeinflusst war als von der älteren, »klassischeren« Epoche zur Zeit der Almoraviden und Almohaden (11. bis 13. Jahrhundert).
 
Diese vielseitige Bautätigkeit verschlang enorme Summen, wofür auch die beträchtlichen Einkünfte des Reiches, zum Beispiel aus der noch immer blühenden Zuckerrohrverwertung und dem -export, die Staatsmonopol waren, bei weitem nicht genügten. Gegen den Rat seiner einheimischen Minister, die einen Angriff auf ein muslimisches Land nicht billigen konnten, entschloss sich al-Mansur, das Gold des Sudans in die Hand zu bekommen und zu diesem Zweck das islamische Reich der Songhai am Niger zu erobern. Eine Armee von 3000 Mann, überwiegend fremde Söldner, durchquerte 1591 unter dem Oberbefehl des Pascha Djuder (hocharabisch: Djaudhar), eines spanischen Überläufers, die Sahara und eroberte Gao sowie Timbuktu. Erhebliche Werte gelangten nach Marokko, Plünderungen und Massaker der Soldateska waren an der Tagesordnung, zahlreiche Mitglieder der Intelligenzschicht wurden nach Marokko deportiert, so 1593 auch der große Gelehrte Ahmed Baba, ein Massufa-Berber, der 1607 in seine Heimat zurückkehren durfte. Ab 1618 kümmerte sich Marokko nicht mehr um diesen Außenposten und überließ ihn der Willkür der Besatzungstruppen. Von 1612 bis 1750 »regierten« hier 109 Paschas(!). Abgesehen von dem zeitweiligen materiellen Gewinn für Marokko waren die Konsequenzen dieser Expedition die Vernichtung des Sudanhandels, der Niedergang der einheimischen islamischen Aristokratie und Kultur und ein lang anhaltender Rückgang des Islam am mittleren Niger.
 
Tod al-Mansurs und Niedergang
 
Al-Mansur, der den Beinamen ad-Dhahabi, »der Goldene«, erhalten hatte, starb 1603 an der Pest. Nach seinem Tode entbrannten neuerliche Thronstreitigkeiten, die dazu führten, dass Marokko wieder in ein Nord- und ein Südreich geteilt wurde. Das Land versank in Anarchie. Ab 1626 hatten die Sadier in Fès ausgespielt; in Marrakesch konnten sie sich noch bis 1659 halten. Spanien besetzte inzwischen 1610 Larache (Al-Araisch) an der Nordwestküste und erbaute 1614 eine Festung an der Mündung des Sebou (al-Mamora, heute Mehdia); aus Spanien vertriebene Morisken ließen sich in Tétouan und 1609/10 in Ribat al-Fath (dem heutigen Rabat) nieder, wo sie 1627 eine oligarchische Republik schufen. Im gleichen Jahr errichtete Abu l-Hasan (Bu Hassun) as-Samlali, ein Marabut (»heiliger Mann«) aus Massat, im Sous und Antiatlas ein unabhängiges »Fürstentum«, das erst von den Alawiden beseitigt werden sollte. Im Norden kämpften der Marabut Mohammed al-Hadjdj und die Marabuts der mächtigen Zawija (Religionszentrum) von ad-Dila am Rande des Mittleren Atlas um die Vorherrschaft. Der erstere wurde 1641 von den Morisken von Rabat-Salé und den Dilaiten gemeinsam besiegt und getötet, nachdem letztere ein Jahr zuvor den Sadiersultan Mohammed asch-Scheich al-Asgar geschlagen hatten. Sie waren damit Herren des nördlichen Marokko (den Rif ausgenommen), unterlagen aber schließlich einer neuen, aufsteigenden Macht, nämlich jener der alawidischen Scherifen des Tafilalt.
 
 Algerien unter türkischer Herrschaft
 
Die türkische Eroberung des größten Teils des Maghreb stellt eines der folgenschwersten geschichtlichen Ereignisse dieser Region dar. Abgesehen vom Zustrom neuer Menschen, neuer Sitten und Gebräuche (das »türkische Café«, die türkische Kleidung der Städter), öffnete die Bindung an das Osmanische Reich, die zentrale islamische Macht der Zeit, einen Weg kultureller Beeinflussungen, der in den vergangenen Jahrhunderten fast abgeschnitten worden war, und knüpfte neue Bande zum Orient, dem Mutterboden des Islam. Durch die Türken wurden auch die Grenzen geschaffen oder endgültig festgelegt, die bis heute die Staaten des Maghreb voneinander scheiden. Indem das heutige Ostalgerien endgültig von Tunesien getrennt und mit dem Westen des Landes unter eine gemeinsame Verwaltung gestellt wurde, ist die Richtung der staatlichen Entwicklung dieses Raumes für die kommenden Jahrhunderte vorgezeichnet und die Grundlage für die Entstehung eines algerischen Staates gelegt worden, die auch die französische Kolonisation des 19. Jahrhunderts nicht mehr zu zerstören vermochte. Das zeigt sich schon daran, dass jetzt die Darstellung des historischen Geschehens wesentlich einfacher und klarer wird, weil eben von nun an in diesem Gebiet nur mehr Staatswesen zu berücksichtigen sind, die, obwohl nominell osmanische Provinzen, bereits sehr bald weitgehend unabhängig waren.
 
Größtmögliche Gewinne für die herrschende Schicht
 
Die osmanische Zeit Algeriens, in der das Land den Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit erlebte, ist von allen Perioden der algerischen Geschichte leider fast am schlechtesten bekannt. Das mag unter anderem daran liegen, dass es nach den wiederholten enormen Verwüstungen der vorangegangenen Jahrhunderte, in denen städtisches Leben fast zum Erliegen gebracht worden war, bedeutender Anstrengungen einer an geistigem Leben interessierten Staatsleitung bedurft hätte, um das kulturelle Niveau wieder zu heben. Die Türkenherrschaft aber zielte nicht darauf ab, sondern war ihrem Wesen nach parasitär: Ihr kam es nur darauf an, Gewinne zu erzielen und einigen wenigen große Reichtümer zu verschaffen. Abgesehen davon brachte die ungebildete Masse der rohen türkischen Miliz auch keine Voraussetzungen zur Erfüllung einer kulturellen Mission mit. Zudem existierte ja schon vom Sprachlichen her eine schwer zu überwindende Schranke: Die Türken konnten kein Arabisch und zeigten wenig Neigung, es zu erlernen, und das Gleiche gilt umgekehrt von den Algeriern, soweit die Besatzer überhaupt mit jenen in Berührung kamen, die sie im Übrigen verachteten.
 
Hier wirkten sich auch die geographische Natur des Landes aus und seine Größe, und darum wohl musste die Entwicklung anders verlaufen als im kleineren Tunesien mit seinen vielen städtischen Siedlungen. Die spanischen Morisken, die sich in Algerien niederließen, waren seit mehr als einem Jahrhundert islamischer Bildung entfremdet. Zwar stellten sie tüchtige Handwerker und Bauern, aber nicht Handel, nicht Ackerbau war die Losung in Algier, sondern Piraterie, und die Landbewohner wurde fiskalisch erbarmungslos ausgebeutet. Der algerische Staat war nur auf ein Ziel hin organisiert: größtmögliche Gewinne für die herrschende Schicht abzuwerfen.
 
Allerdings darf man nicht übersehen, dass womöglich der Verlust nicht unerheblichen Quellenmaterials — historischer wie literarischer Handschriften sowie Archivalien — während der späteren französischen Eroberung Algeriens und den Kämpfen der ersten Jahrzehnte danach ein solch hartes Urteil verstärkt haben könnte, einmal ganz davon abgesehen, dass es im Interesse der Franzosen lag, das Bild der Türkenherrschaft möglichst schwarz zu malen.
 
Janitscharen und Korsarenkapitäne
 
Die Regentschaft war in drei Provinzen (beylik) eingeteilt: die des Westens mit der Hauptstadt Mazuna (ab 1710 Mascara, ab 1792 Oran), die des Titerigebirges im Zentrum mit dem Hauptort Médéa und die des Ostens mit dem Hauptort Constantine; daneben gab es den unmittelbar der Kontrolle des Paschas bzw. Deis unterstehenden Dar as-sultan, zu dem der Küstenstreifen von Ténès bis Dellys mit Algier im Mittelpunkt gehörte. Die Provinzen waren wiederum in Kantone oder Kreise (autan) unterteilt, die jeweils mehrere Stämme oder einen besonders großen Stamm umfassten, die von Kadis verwaltet wurden, welche die zivile, militärische und richterliche Gewalt ausübten.
 
Das türkische Algerien war also ein Militärstaat, in dem die Miliz der Janitscharen (udjak, türkisch ocak »Herd«) die privilegierte Herrenschicht darstellte. Diese rekrutierte und erneuerte sich aus den ärmsten und nicht gerade feinsten Volksklassen Anatoliens und wählte ihre Offiziere selbst. Der einfachste Soldat konnte mit vorschreitendem Lebensalter zum Befehlshaber der Miliz, dem Aga, aufsteigen. Dieser wurde drei Monate nach Erreichen des Grades als Ehren-Aga in den Ruhestand versetzt. Die Miliz umfasste mehrere Kompanien (orta »Horde«) variabler Größe, die in gut gehaltenen Kasernen in Stuben (oda) mit zwölf bis zwanzig Mann Belegschaft hausten und gemeinsam kochten. Sie wurde steuerlich bevorzugt behandelt und unterstand nicht der allgemeinen Gerichtsbarkeit; Übeltäter wurden von den Offizieren abgeurteilt. Wie weit die Duldung von Übergriffen seitens gewählter Offiziere ging, kann man sich unschwer vorstellen! Die Truppe bestand nur aus Infanterie, denn die Kavallerie (spahi) wurde von ehemaligen Agas und einheimischen Stammesangehörigen gestellt. Ähnlich hatten einst die Almohaden, die selbst Streiter zu Fuß waren, mit ihrer von den westalgerischen Stämmen der Zanata gestellten Kavallerie das Land kontrolliert. Die Führung der Miliz, der Diwan (divan), war im Staatsrat vertreten und versuchte oft, diesen zu beherrschen.
 
Die zweite privilegierte Stütze des Staates stellte die Korporation (taifa) der Korsarenkapitäne oder, gegebenenfalls, der Schiffseigentümer dar. Erstere waren zum allergrößten Teil Europäer, oft ehemalige Gefangene, die zum Islam übergetreten waren; eine geringere Zahl stellten die Mauren (als solche sollte man nur nordafrikanische Stadtbewohner spanisch-arabischer Herkunft und Bildung bezeichnen). Im Jahre 1558 verfügte diese Korporation, die großes Gewicht im Staate besaß, über 35 Galeeren, 25 Brigantinen oder Fregatten und zahlreiche bewaffnete Barken. Man kann getrost sagen, dass im 16./17. Jahrhundert das Land von ihren Kaperfahrten lebte, und zwar gut lebte. Abgesehen von den erbeuteten Waren und Geldern, schätzte man die Zahl christlicher Gefangener gegen 1600 auf etwa 25000, die entweder gegen gepfeffertes Lösegeld freigelassen wurden oder äußerst billige und zudem geschickte Arbeitskräfte abgaben. Im 18. Jahrhundert allerdings ging mit den Einnahmen aus der Piraterie auch die Bedeutung der Korsarenkapitäne zurück, und zwar in dem Maße, in dem sich die europäischen Staaten zu energischen gemeinsamen Aktionen aufrafften und wirksame Gegenmaßnahmen einzuleiten begannen. Von allen europäischen Nationen verfügte übrigens England über die besten Beziehungen und oft nicht unbeträchtlichen Einfluss.
 
Statthalter, Paschas, Agas, Deis und ein folgenreicher Schlag mit dem Fächer
 
Die vom Sultan in Istanbul ernannten Statthalter, die Beglerbegs (beylerbeyi), die das Land bis 1587 regierten, taten das entweder selbst oder durch einen Stellvertreter (chalifa). Sie waren den Paschas von Tunis und Tripolis übergeordnet und stets getreue Untertanen des Großherrn. Sie versuchten mehrmals, ihre oder vielmehr ihres Herrschers Macht über Marokko auszudehnen, was aber misslang und nur dazu führte, dass sich dieses Land selbst mit seinem Erbfeind Spanien gegen die Türken verbündete. Die seit 1587 anstelle der Beglerbegs regierenden Paschas der Regentschaft Algerien sahen ihre Macht immer mehr schwinden, und ab 1656 übte der Aga der Janitscharen, vom Staatsrat unterstützt, die tatsächliche Macht aus. Schließlich nahm die Korporation der Korsarenkapitäne das Heft in die Hand und setzte 1671 einen Dei ein, der ab 1689 von den Offizieren der Miliz gewählt wurde. Die Regierung des Sultans, die sich damit abfinden musste, verlieh ihnen ab 1771 den Titel eines Pascha. Die Mehrzahl der Deis waren verständige und besonnene Männer und keineswegs die Halbbarbaren, als die sie häufig dargestellt werden.
 
Indessen gingen die Kaperfahrten ständig zurück, die das Land drückende Steuerlast vermehrte sich entsprechend, und der Staat, der es nie verstanden hatte, alle Bewohner zu seinen Bürgern zu machen, verfiel allmählich. Die Bergmassive, so die Kabylei und der Aurès, waren ohnedies nie wirklich besetzt worden und wurden von einem Sicherheitskordon von Wachtposten und -türmen umgeben, um sie so wenigstens unter Beobachtung zu halten; an strategisch wichtigen Punkten installierte man Militärkolonien (smala, Plural smul). Der Regierung ergebene Stämme, die mit Steuererleichterung belohnt und entlohnt wurden, besorgten das Eintreiben der Steuern und wachten einigermaßen über die Sicherheit der Verbindungswege. Man schätzt, dass im späten 18. Jahrhundert nur etwa ein Sechstel des heutigen Algeriens (ohne die Saharagebiete) tatsächlich der Kontrolle des Dei unterstand. Trotzdem mischte man sich in tunesische Thronstreitigkeiten ein; 1756 wurde Tunis erobert, geplündert und mit einem Tribut belegt, den es bis 1821 entrichten musste. Im Westen gelang es 1708 endlich, die spanischen Herrschaften (presidios) Oran und Mers el-Kebir einzunehmen; Oran kam allerdings von 1732 bis 1792 noch einmal in spanische Hand.
 
Trotz des allgemeinen Niedergangs hätte die Regentschaft Algier vermutlich noch lange existieren können, wäre nicht der Dei durch finanzielle Machenschaften, deren Opfer, nicht etwa Nutznießer er war, in einen fatalen Gegensatz zu seinem alten Verbündeten Frankreich gedrängt worden, und hätte er sich nicht, durch die undurchsichtigen Intrigen und das ungehörige Benehmen des französischen Konsuls Jacques Deval gereizt, dazu hinreißen lassen, diesem den berüchtigten Schlag mit dem Fächer oder Fliegenwedel zu versetzen (1827). Nicht diese drei Jahre(!) später geltend gemachte Schmach, sondern sehr handfeste wirtschaftliche Interessen und Gegebenheiten der französischen Innenpolitik führten zu der Landung und Besetzung Algiers am 5. Juli 1830 durch Frankreich.
 
 Die Regentschaft Tunis
 
Wichtigstes Erbe der türkischen Herrschaft in Nordafrika ist, wie schon gesagt, die gegenseitige Abgrenzung der verschiedenen Hoheits- und Verwaltungsgebiete: Marokko, Algerien, Tunesien und Tripolitanien, das spätere Libyen, erhielten damals im Wesentlichen ihren heutigen Umfang. Hinfort existierte zum Beispiel eine »Imalat Tunis«, eine »Regentschaft Tunis«, aus der das heutige Tunesien hervorging. Bougie und Constantine wurden definitiv von Tunis abgetrennt, ebenso Tripolis. Im Übrigen kann man wohl sagen, dass Tunesien unter türkischer Herrschaft im Vergleich zu seinen Nachbarländern noch gut abschnitt. Das lag ohne Zweifel auch daran, dass eine eigene tunesische Identität schon lange im Werden war, zumindest die Ansässigen sich anderen gegenüber als »Tunesier« empfanden und das beduinische Element in diesem Lande schwächer als in den anderen war. Auch hier gab es Rivalitäten, Machtkämpfe und kriegerische Auseinandersetzungen, aber im Unterschied zu Algier und Tripolis in der Türkenzeit kannte die Regentschaft Tunesien spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eigene Dynastien: Von 1631/40 bis 1672 regierten — als Beis — die Muradiden, sodann, von 1705 an, die Husainiden, die bis 1957 zwar nicht immer an der Macht waren, aber doch Einfluss ausübten, was dem Land ein gewisses Mindestmaß an Stabilität verlieh.
 
Die Ansiedlung der Morisken und das Korsarentum
 
Zwei Faktoren sehr verschiedener Natur verdienen es, aus dem Gestrüpp der Details hervorgehoben zu werden: Da ist einmal, nach 1609, die Aufnahme der aus Spanien vertriebenen Mauren oder Morisken, wie sie dort nach ihrer Zwangsbekehrung genannt wurden, die einen äußerst wertvollen und wirtschaftlich aktiven Bevölkerungszuwachs bedeuteten. Sie kamen als Europäer, im Besitz damals moderner Handwerkstechniken (Seidenweberei vor allem und Herstellung der handgearbeiteten Schaschijas, der roten Kappen, deren schlechte maschinelle Nachahmung bei uns als »Fes« bekannt ist), und sie waren des Arabischen unkundig, wofür die noch im 18. Jahrhundert spanischsprachigen Ortschaften in Nordtunesien Zeugnis ablegen. Dei Othman (1593—1610) kommt das Verdienst zu, sie freundlich aufgenommen und durch Entgegenkommen hinsichtlich Steuerzahlung und Gewährung von Privilegien zur Ansiedlung ermuntert zu haben.
 
Der zweite bestimmende Faktor der Geschichte Tunesiens vom 16. bis ins 19. Jahrhundert war, wie in den Nachbarländern, das geschäftsmäßig aufgebaute und betriebene Korsarentum, das dem Lande zuzeiten erhebliche Einnahmen brachte. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es auch eine »christliche« Seeräuberei im Mittelmeer gab und die »Untaten« der Gegenseite maßlos übertrieben wurden. Die Verlagerung des europäischen Seehandels vom Mittelmeer in den Atlantik und die gleichzeitige langsame Erstarkung der europäischen Flotten ließen diesen Erwerbszweig allerdings nach und nach verkümmern, sodass die Einnahmen der »Barbareskenstaaten« — wie die arabisch-berberischen Staaten Nordafrikas im Westen genannt wurden — entscheidend zurückgingen. Aus jenen Jahrhunderten datiert auch der Einfluss Frankreichs in Tunesien, das dort seit 1577 (seit 1564 in Algier) ein Konsulat unterhalten durfte, das der Abwicklung von Handelsgeschäften wie dem Loskauf christlicher Sklaven diente. Der französische Konsul vertrat dabei mit Ausnahme Englands und Hollands alle europäischen Mächte und darf ein im Ganzen segensreiches Wirken für sich buchen.
 
Tunesien als französisches Protektorat
 
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es mit der Regentschaft wie mit dem Osmanischen Reich gewaltig bergab gegangen, auch hatten sich die Verbindungen zwischen beiden so sehr gelockert, dass Tunesien praktisch von Istanbul unabhängig geworden war. Algerien hatte inzwischen aufgehört, Regentschaft des Reiches zu sein, und war, nachdem 1830 französische Truppen gelandet waren und die Hauptstadt und ihr Umland erobert hatten, im Begriff, französische Kolonie zu werden. Dieser Umstand, der allmählich anwachsende Druck moderner europäischer Ideen hinsichtlich konstitutioneller Regierung, die Ausbeutung und Misswirtschaft im Lande, das Absinken der eigenen Produktion, Verlust von Auslandsmärkten, die von billigen europäischen Maschinenerzeugnissen überschwemmt wurden, vermehrte Einfuhren bei gleichzeitiger Verminderung der Steuereinnahmen: All dies führte das Land immer tiefer in eine Krise hinein, die in der Regierungszeit von Bei Mohammed as-Sadik kulminierte. Der Herrscher verkündete 1861 eine Verfassung, die jedoch in der Praxis nicht funktionierte. Gewaltige Steuererhöhungen führten 1864 zu einer Revolte im Süden des Landes, die erbarmungslos niedergeschlagen wurde. Die Jahre zwischen 1865 und 1868 waren für das geplagte Land Jahre fortgesetzter Missernten, der Hungersnöte und Seuchenplage. Tunesien war hoffnungslos beim europäischen Ausland, zumal bei Frankreich oder zumindest bei französischen Geldgebern, verschuldet. Eine internationale Kommission, die von 1869 bis 1872 arbeitete, stellte ihre Tätigkeit ein, da sie ihre Aufgaben für unlösbar ansah.
 
Der Einfluss Frankreichs, der als Folge des verlorenen Krieges von 1870/71 zunächst zurückgegangen war, und, zunehmend, der des neuen Italiens, fanden ihren Ausgleich auf dem Berliner Kongress von 1878, auf dem das Schicksal Tunesiens zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland praktisch entschieden wurde. Im Jahre 1881 besetzte Frankreich die Regentschaft, und der Bei musste im Vertrag von Kasr as-Said (Bardovertrag, nach dem nahen Ort Bardo bei Tunis) vom 12. Mai 1881 die französische Okkupation anerkennen, die sich im Text der 1883 folgenden »Konvention von La Marsa« in ein Protektorat verwandelte. Von diesem Zeitpunkt an bis zum Erlöschen desselben, am 20. März 1956, war Tunesien de facto eine Kolonie Frankreichs und wurde, wenn es darauf ankam, zum Beispiel im Kriegsfall bei der Rekrutierung von Soldaten, auch als solche behandelt.
 
 Marokko unter den Alawiden
 
In Marokko etablierten sich nach dem Ende der Sadier allmählich die Alawiden (oder Hasaniden), Nachkommen des Prophetenenkels Hasan, die aus dem Hidjas stammten. Sie hatten sich Ende des 13. Jahrhunderts im Tafilalt niedergelassen und lebten dort als angesehenes, aber politisch machtloses Geschlecht. Als der Marabut des Sous, as-Samlali, und die Marabuts von ad-Dila Ansprüche auf das Tafilalt erkennen ließen, machten seine Bewohner das Haupt der dortigen Scherife, Mohammed asch-Scharif, 1631 zu ihrem Führer, der die Gefahr auch abwenden konnte. Sein Sohn Mulai Mohammed gewann den Osten Marokkos. Unter dessen Sohn Mulai ar-Raschid begann der eigentliche Aufstieg der Alawiden zur Macht: Zwischen 1659 und 1666 eroberte er den Norden des Landes, vernichtete die Bruderschaft von ad-Dila (1668), nahm Marrakesch ein (1669) und unterwarf 1670 die Marabuts des Sous. Bereits zwei Jahre später starb er durch einen Unfall.
 
Mulai Ismail (1672—1727)
 
Sein Bruder, der berühmt-berüchtigte Mulai (Herr) Ismail, regierte nun Marokko für mehr als ein Menschenalter mit eiserner Faust. Grausam, gewalttätig, zeugungsfreudig und habgierig, übt er eine seltsame Faszination auf Historiker wie Schriftsteller aus. Fünf Jahre benötigte er, um sein Erbe antreten zu können, und Revolten, die erbarmungslos niedergeschlagen wurden, machten in den folgenden 20 Jahren zahllose Feldzüge nötig. Dazu schuf er sich eine ihm blind ergebene Truppe schwarzer Söldner (und Sklaven), die unter anderem aus dem Sudan rekrutiert wurden. Das stehende Heer war bis zu 150000 Mann stark, die zum Teil in Kasbas, die über das ganze Land verstreut waren, in Garnison lagen, zum Teil an einigen Hauptwaffenplätzen konzentriert waren.
 
Die europäischen Besitzungen an der Atlantikküste wurden erobert oder ihre Räumung erzwungen: 1681 fiel Mamora, 1684 Tanger, 1689 Larache und 1691 Arzila (Asila). Trotz mehrerer Vorstöße nach Algerien verfestigte sich die Grenze zwischen den beiden Ländern an der Tafna. Mulai Ismail bemühte sich um das wirtschaftliche Gedeihen des Staates, besonders um eine Verstärkung des Außenhandels. Seine Bautätigkeit in der neuen Residenz Meknès hatte außerordentlichen Umfang: Es entstand eine vollständige Regierungsstadt mit Palästen, Moscheen, Stallungen, Lagerhäusern, Zitadellen und Forts, umgeben von einem Wall von 25 km Länge. Der insgesamt eher monumentale als künstlerische Komplex schließt einige erstaunliche Bauwerke ein, darunter auch das von Mulai Ismails Sohn vollendete Stadttor Bab Mansur (Bab el-Mansour el-Aleuj), das imposanteste Tor der Stadt.
 
Dieser Herrscher entschied alles selbst, duldete nicht den geringsten Widerstand noch Widerspruch und handelte stets nur nach seinem eigenen Gutdünken. Das marokkanische Recht unterschied bled el-machsen, das vom Sultan effektiv kontrollierte Gebiet, das auch Steuern zahlte, und bled es-siba, das Gebiet, das sich der Autorität des Sultans mehr oder weniger entzog und dessen Stämme durch Kriegszüge (harka) zu Tributzahlungen gezwungen werden mussten. Unter seiner Regierung war diese Zweiteilung eher Reminiszenz denn politische Wirklichkeit; das letztere Gebiet schrumpfte auf ein Nichts zusammen. Die innere Sicherheit des Landes war nie größer als unter ihm.
 
Doch das imposante Gebilde des marokkanischen Staates unter Mulai Ismail ruhte auf einer zu unsicheren Basis, in erster Linie auf ihm selbst. Noch ehe er gestorben war, kündigten Revolten seiner Söhne den Ruin seines Werkes an. Im Augenblick seines Todes machte sich wiederum Anarchie breit, und die Sklavengarde versuchte, die Macht zu ergreifen. Bemerkenswert ist, dass während all dieser Wirren, die nun über Jahrzehnte hin das Land erschüttern, der Handel mit Europa bzw. die Handelstätigkeit der Europäer in Marokko weiter gedieh; Niederländer und Engländer verdrängten die Franzosen mehr und mehr vom Markt.
 
Sidi Mohammed (1757—90)
 
Seit 1746 herrschte als Vizekönig in Marrakesch über den Süden des Staates Mohammed, Sohn des viermal regierenden Abdallah (1729—35, 1736, 1740—45, 1745—57); er bestieg nach seines Vaters Tod unangefochten den Thron und arbeitete während seiner langen Regierungszeit unermüdlich, mit einer hohen Auffassung von Monarchenpflicht, an der Genesung des erkrankten Staatswesens. Sidi (»Herr«, wie Mulai) Mohammed ibn Abdallah war ein frommer, gerecht denkender und friedensliebender Fürst, den man wohl — wäre nicht die Figur seines Großvaters so viel blutvoller und farbiger — als bedeutendsten der Alawiden bezeichnen würde, sicherlich aber war er der Herrscher seines Hauses, der die größten Anforderungen an sich selber stellte.
 
Sidi Mohammed gelang es 1769 zwar, die Portugiesen zur Aufgabe ihres letzten Stützpunktes Mazagan/Jadida zu zwingen, nicht aber Melilla einzunehmen, das bis heute als presidio unter spanischer Hoheit steht. Nach den Plänen des französischen Architekten Théodore Cornut entstand als Neugründung — an der Stelle der alten portugiesischen Festung — Mogador/Essaouira, das den Handel mit dem Sudan an sich zu ziehen verstand, wodurch der Sous, ewiger Unruheherd und Zentrum des Widerstandes gegen die Zentralgewalt, seiner Exportmärkte beraubt wurde und verarmte.
 
Die Bautätigkeit dieses Sultans war erheblich: Von Mogador/Essaouira abgesehen, errichtete er in Marrakesch — wo er noch als Gouverneur die verfallene Kasba restauriert und später mit einem großartigen Palastkomplex ausgestattet hatte — den Palast Dar el-Beida, einen gleichnamigen in Meknès, und erbaute in Fès die Medrese am Tor Bab Gisa (Bab Guissa). Der Stadt Marrakesch gilt er mit Recht als ihr großer Wohltäter, unter dem sie noch einmal Hauptstadt war.
 
Der Niedergang
 
Nach dem Tode dieses bedeutenden Herrschers im Alter von achtzig Jahren ging es, trotz respektabler Leistungen einzelner Monarchen, stetig mit dem Lande bergab. Der Abstand des immer stärker in selbst gewählter Isolierung verharrenden Staates teils frühneuzeitlichen, teils geradezu noch mittelalterlichen Charakters, zu dem in Erfindungen schwelgenden und ob seiner technischen Fortschritte und des daraus resultierenden Machtzuwachses immer selbstbewussteren Europa, vergrößerte sich laufend. Im Innern gelang es nicht, der Autorität des Sultans weitere Gebiete zu unterwerfen; das bled es-siba, in sich selber zerrissen und mit sich beschäftigt, behauptete seine Ausdehnung. Mit der Eroberung Algeriens durch Frankreich war Marokko vom Dar al-Islam, dem »Gebiet des Islam«, fast abgeschnitten, und das Prekäre seiner Lage, der Anachronismus seiner Institutionen, wurde immer deutlicher. Die durch die Unkenntnis Europas herbeigeführte völlige Fehleinschätzung seiner Möglichkeiten und seiner Macht verleiteten gar Sultan Sidi Mohammed ibn Abd ar-Rahman (1859—1873) dazu, sich in einen Krieg mit Spanien (1859/60) einzulassen, dessen Ausgang dem Lande ein böses Erwachen bereitete. Mehrfach geschlagen, mussten die marokkanischen Truppen Tétouan aufgeben und die Besetzung Tangers befürchten. Großbritannien, nicht darauf erpicht, Spanien sich dort festsetzen zu lassen, vermittelte den Frieden, der Marokko 20 Millionen Duros Kriegsentschädigung und die Erweiterung des spanischen presidio Ceuta kostete. Die Vertreter der europäischen Mächte residierten hinfort in Tanger, das zur diplomatischen Hauptstadt des Landes wurde.
 
 Ägypten und Libyen
 
Nach der osmanischen Eroberung Ägyptens 1517 dauerte es geraume Zeit, bis sich das neue Regime auch in Oberägypten und den Außenposten durchsetzen konnte; andererseits gelang es bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, die Tribut- und Steuerzahlungen an die Hohe Pforte in der festgesetzten Höhe abzuführen. Im weiteren Verlauf wurde indes die Macht des türkischen Paschas schwächer, und allmählich etablierten sich neue »Machthaber«, Beis genannt; schließlich setzten sich die früheren Herren wieder durch, die Mamelucken. Die Gewaltherrschaft der Mameluckenbeis löste die französische ägyptische Expedition von 1798 aus. Dieses Unternehmen unter Leitung von Napoléon Bonaparte war militärisch ein Misserfolg, aber kulturell für das Land von größter Bedeutung.
 
Obwohl, von den Kopten abgesehen, die Bevölkerung den Europäern ablehnend, ja feindlich gegenüber stand, wurde Ägypten von dieser Begegnung mit dem Westen tief gehend beeinflusst: Buchdruck, moderne Verwaltungsstrukturen, höhere Schulen, auch vom Typ der französischen Écoles, fanden Eingang, wiewohl vieles davon erst unter Mehmed Ali (1805—48) und seinen Nachfolgern wirksam wurde. Der osmanische Offizier albanischer Herkunft, Mehmed (in Ägypten: Muhammad) Ali, wurde 1805 als Statthalter des Sultans eingesetzt und beseitigte 1811 die Mameluckenbeis. Durch seine Reformpolitik wurde er zum Begründer des modernen Ägypten.
 
Der Bau des Suezkanals durch Ferdinand Lesseps 1859—69, wiewohl eine Großtat, hatte fatale Folgen. Das Land wurde einer europäischen Zwangsschuldenverwaltung unterworfen und endete 1882 in der britischen Okkupation. Die Folge aller Entwicklungen in Ägypten aber war, dass das Land noch heute zivilisatorisch und kulturell der bedeutendste arabische (und islamische) Staat ist.
 
Libyen, nach der türkischen Eroberung zunächst osmanisches Paschalik, war zwischen 1711 und 1835 unter der Beidynastie Karamanli halb unabhängig und stand dann wieder unter direkter osmanischer Herrschaft, bis diese 1912 durch einen von Italien vom Zaun gebrochenen Krieg beseitigt und das Land italienische Kolonie wurde.
 
Prof. Dr. Hans-Rudolf Singer
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Nordafrika unter dem Islam bis zur osmanischen Eroberung: Eroberte und Eroberer
 
 
Geschichte der arabischen Welt, herausgegeben von Ulrich Haarmann. München 31994.
 Julien, Charles-André: Histoire de l'Afrique du Nord. Tunisie, Algérie, Maroc. Band 2. Neuausgabe Paris 1986.
 Lourido Díaz, Ramón: Marruecos en la segunda mitad del siglo XVIII. Vida interna: política, social y religiosa durante el sultanato de Sidi Muhammad B. 'Abd Allah, 1757-1790. Madrid 1978.
 Lourido Díaz, Ramón: Marruecos y el mundo exterior en la segunda mitad del siglo XVIII. Relaciones político-comerciales del sultan Sidi Muhammad B. 'Allah (1757-1790) con el exterior. Madrid 1989.
 Ronart, Stephan / Ronart, Nandy: Lexikon der arabischen Welt. Ein historisch-politisches Nachschlagewerk. Aus dem Englischen. Zürich u. a. 1972.
 Terrasse, Henri: Histoire du Maroc des origines à l'établissement du protectorat français. Band 2. Casablanca 1950. Nachdruck New York 1975.

Universal-Lexikon. 2012.

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